HalleJudentum

Sagen aus Halle zu Jüdischem Leben in Deutschland

Auch nach fast 2000 Jahren Anwesenheit auf dem Gebiet des heutigen Deutschland sind Jüdinnen und Juden immer noch nicht sicher. Das hat uns der Terrorangriff auf die Synagoge der Jüdischen Gemeinde in Halle am 9. Oktober 2019 wieder deutlich vor Augen geführt. Wieder beginnen Rechtsextreme und Verschwörungsmythologen das Jüdische Leben als „Hauptfeind“ auszumachen, so als hätte es die Shoah und all die Greueltaten nicht gegeben. Trotzdem und trotz Covid-19 wird 2021 ein Festjahr werden. „Am 11. Dezember 321 erlässt der römische Kaiser Konstantin ein Edikt (Gesetz). Es legt fest, dass Juden städtische Ämter in der Kurie, der Stadtverwaltung Kölns, bekleiden dürfen und sollen. Dieses Edikt belegt eindeutig, dass jüdische Gemeinden bereits seit der Spätantike wichtiger integrativer Bestandteil der europäischen Kultur sind.“ (Quelle: https://2021jlid.de/)

Judenquartier lt. Karte in: Hertzberg, Gustav Frd.: Geschichte der Stadt Halle an der Saale, Bd. 1

Auch wir möchten uns am Festjahr #2021JLID mit kleinen Beiträgen beteiligen. Den Beginn soll ein Blick in die Sagenwelt von Halle machen, diese wurden von Siegmar Baron von Schultze-Galléra gesammelt und liegen in einer Reprintauflage aus dem Jahr 2016 aus dem Verlag Rockstuhl vor. Einerseits liegen in diesem „Sagenschatz“ eine Menge Hinweise auf jüdisches Leben vor, aber dies spiegelt (fast) alles wieder, was Juden in Deutschland geschehen konnte: Progrom, Vertreibung, Verfolgung und Vorurteile kommen auch nicht zu knapp vor. Zwischen Ansiedlung der Juden in Halle „stand unter bösen Vorzeichen“ und „die Juden sind unser Unglück“ ist nur noch ein minimaler Unterschied.

Eventuell bereits im 10. Jhd., archäologisch gesichert ab 11. Jhd. , gab es eine jüdische Siedlung an der Saale im Gebiet der Altstadt von Halle. Urkundlich erwähnt wurde jüdisches Leben in Halle erst im Jahr 1184. Es gab mehrere Vertreibungswellen, aber endgültig verlassen mußte die mittelalterlich-jüdische Gemeinde Halle in den Jahren 1452 bis 1454. 1493 mußten auch die Familien, die sich vor der Stadtmauer in Neumarkt angesiedelt hatten, auf erzbischöflichen Befehl ihr Zuhause verlassen. (Backhaus, 2006, in Geschichte der Stadt Halle, 2 Bd.). Wer sich also über die großangelegte Vertreibung der Juden aus Kastilien im Jahr 1492 unter der „katholischen“ Königin Isabela erschreckt, sollte wissen, dass Erzbischof Ernst von Magdeburg dies zeitgleich in seinem Gebiet durchführte und die Hallenser ihm sogar um einige Jahre zuvor gekommen sind. Jüdisches Leben gab es bis zum 17. Jahrhundert nicht mehr. Auch Konvertiten, die es anscheinend gegeben hat, war kein besseres Schicksal bestimmt als den Conversos oder Marranos auf der iberischen Halbinsel, wie wir im Anschluss in den Sagen aus Halle erfahren werden. Auch in Halle wurden lt. Sage Juden verbrannt.

Ein Schlüssel zum Haus im Judenquartier von Halle

Beginnen wir mit einer Sage, die in Halle nicht so existiert, uns aber von den sefardischen Juden von der iberischen Halbinsel überliefert ist. Noch bis in heutige Zeit sollen Schlüssel der jüdischen Häuser von Toledo und anderen iberischen Städten in Besitz der sefardischen Familien sein, die 1492 von den „katholischen“ Königen aus ihrer Heimat vertrieben worden sind. Tatsächlich hat diese Geschichte einen wahren Kern, wie wir in einem anderen Artikel vom 22. Mai 2016 schrieben: „So blieb auch der Schlüssel der letzten Synagoge von Zamora in León in den Händen der sephardischen Familie Casim, die 1492 über den Hafen Barcelona die spanischen Königreiche in Richtung Syrien verließ. Die ganze Geschichte erzählt der mexikanische Wissenschaftler Carlos Zarur einer Zeitung in Zamora, hier nachzulesen …“ Wenige Jahre vor den Sefarden mußten die Juden aus Halle die Stadt verlassen, haben auch sie die Schlüssel ihrer Häuser mitgenommen? Wir wissen es nicht. Es wäre aber ein tröstlicher Gedanke, wenn irgendwo noch ein Schlüssel aus dem 15. Jhd. existieren würde, der die Tür zu einem nicht mehr existierenden Haus in der jüdischen Siedlung in Halle aufschließen könnte.

Immerhin blieb in Halle die Erinnerung an die einstmals bedeutende jüdische Bevölkerung erhalten. Von den 88 Sagen, obwohl es lt. Untertitel 108 Sagen enthalten sollte, die in den „Sagen der Stadt Halle“ von Schultze-Galléra gesammelt worden sind, habe ich 6 auffinden können, die sich mit jüdischem Leben in der Stadt befassen:

Sage 47, eher ein historischer Kurzabriss als eine Sage, erzählt von den Chronisten Johannes Buschius und Johann Christoph von Dreyhaupt. Ersterer soll am Jägerberg noch alte jüdische Grabsteine erwähnt haben, was von Ausgrabungen in den 80er Jahren bestätigt worden ist, allerdings ohne den Beleg von Grabsteinen, und Dreyhaupt vorortete die ersten jüdischen Ansiedlungen in die Zeit von Otto I. im 10. Jhd. Bereits der Kaiser soll die Juden unter den Schutz des Erzbischofs von Magdeburg gestellt haben, was Schultze-Galléra bezweifelt, wahrscheinlich weil er genau wußte, dass das Erzbistum Magdeburg zur Zeiten von Otto I. erst im Entstehen begriffen war und auf unsicheren Füßen stand, wie sich bald herausstellen sollte. Natürlich führt Schultze-Galléra auch den berühmten Reisenden Ibrahim ibn Yaqub auf, der eine jüdische Siedlung an der Saale erwähnte. Es bestehen Zweifel, ob damit Halle gemeint sein könnte.

Halle schützt seine Juden (zumindest sagenhaft!)

Sagenhaft wird Sage 47 erst, als wir in die Zeit des ersten Kreuzzugs gelangen. Und auch hier bestehen große Zweifel, ob in der von Schultze-Galléra wiedergegebenen Quelle, überhaupt Halle vorkommt. Es soll sich hier um Teilnehmer des ersten Kreuzzuges handeln, die sich in der Stadt versammelten und die jüdische Gemeinde massiv bedrohten. Statt den auf Halle bezogenene Text bei Schultze-Galléra wieder zu geben, führen wir hier das Original von Salomo ben Simeon auf:

„Als die Irrenden über die würdigen und heiligen Männer in der Stadt . . . .*“) kamen, sprachen sie: „Jetzt merket auf unsere Rede und erkennet, was ihr thun sollt! Entweder bekehret euch zu unserm Glauben, oder ihr habt das Todesurteil zu ertragen; wie auch eure Brüder thaten, die im christlichen Lande wohnen.“ Da erbaten sie sich von den Irrenden und ihren Stadtleuten drei Tage Bedenkzeit und liessen durch einen Abgesandten ihrem Fürsten von dieser Sache benachrichten. Jene drei Tage weiheten sie zum Fasten und flehten vor dem Angesichte des lebendigen Gottes unter Fasten, Weinen und Klagen und ihr Gebet ward angenommen, der barmherzige Gott rettete sie. Der Fürst unterstützte sie während der dreitägigen Zeit, er schickte ihnen einen Anführer mit 1000 schwertumgürteten Reitern zu Hilfe, dabei waren auch von den in der Stadt …. wohnenden Juden 500 bewaffnete und kriegsgeübte junge Männer, die sich vor keinem Feinde rückwärts kehrten. Diese überfielen unverhofft die Stadt und schlugen mit empfindlichen Schlägen die Irrenden wie die Stadtleute. Von den Juden kamen nur sechs um. Die übrige Gemeinde rettete der Freund Israels und brachte sie allesamt in ein Dorf gegenüber der Stadt …. jenseits des Flusses. Dort blieben sie in Frieden und Ruhe bis die Feinde des Ewigen fortgezogen waren.

*Welcher Ort gemeint ist, läßt sich nicht sicher bestimmen. Wie der Bericht zeigt, war es eine stark bevölkerte Stadt; deshalb kann an keinen der Orte Namens Zell, Zella, Celle u. s. w. gedacht werden. Quelle: A. Neubauer – M. Stern, Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge (Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland, 2), Berlin 1892 https://www.geschichtsquellen.de/werk/479

Sage 48, „Halle wurde auch Sole (Sale) genannt“, schließt sich direkt an die vorhergehende Sage an. Aufgeführt wird, dass auch durch den 2. Kreuzzug Juden in Halle getötet wurden. Der Rest der Ausführungen versucht zu belegen, dass sich Sole oder Sale in hebräischen Quellen auf Halle bezieht, dabei werden auch der ungesicherte Aufenthalt des bereits erwähnten von Ibrahim ibn Yaqub ebenso wie ein jüdischer Dichter namens Meyr ben Jechiel, der um 1200 in Halle gelebt haben soll, genannt.

Antisemitismus in den Sagen der Stadt

Die Sage 52, „Die Bußpredigt des Johannes Capistranus“ erwähnt die jüdischen Einwohner erst am Ende und zwar im Zusammenhang mit ihrer Vertreibung aus Halle durch den Erzbischof. Die antisemitische Attitüde der Sage tritt klar in den Vordergrund durch die Erwähnung, dass durch die Predigten des Capistranus der Wucher in der Stadt zurück gegangen wäre.

In Sage 54 tritt der Konvertit Johann Pfefferkorn auf. Diese Erzählung soll am 3. September 1518 spielen, also lange nach der Vertreibung der jüdischen Einwohner von Halle. Vermutlich ein Scharlatan, der sich als Arzt und Priester ausgegeben hatte, um über die Runden zu kommen, wurde der arme Pfefferkorn öffentlich so lange zu Tode gefoltert, bis er alle „Schandtaten“ zugegeben hatte, die Juden allgemein vorgeworfen wurden: Hostienschändung, Kindesentführung und Kindesmord, Giftmorde und Brandstiftung. Sogar einen gebannten Teufel soll er entführt haben, um mit diesem Zauberei zu treiben. Dieser Justizmord in Halle, sofern er stattgefunden, beweist, um wie viel finsterer die beginnende Neuzeit als das vergangene Mittelalter fortschritt. Dabei hatten religiöse Auseinandersetzungen, Bauernaufstände und Kriege noch gar nicht richtig begonnen. Pfefferkorns unter Pein erpresste Geständnisse nutzten ihm nichts, er wurde zu Tode geröstet und danach vollständig verbrannt.

In Sage 76 sind vier „Curiosa“ über die Juden in Halle gesammelt: In zwei Geschichten werden Juden wegen Diebstahl hingerichtet, einer davon ein Konvertit. Ganz offen wird damit ausgedrückt: Egal, ob ein Jude getauft ist, er bleibt ein Jude und ein Dieb. Das wird in der letzten Geschichte dieser „Curiosa“ noch auf die Spitze getrieben: Abraham Jakob aus Mainz wird 1652 in Halle in Anwesenheit von hochstehenden Personen getauft. Die Geschichte endet damit, dass der Getaufte dieses Mal nicht Dieb wird, sondern fast noch schlimmer: Er wird ein Mamelucke, vermutlich ist gemeint, dass er zum Islam konvertiert ist, das aber sicherlich nicht in Halle. Juden erscheinen in diesen „Curiosa“ als Diebe, Herumtreiber und unbeständige Charakter.

Böse Vorzeichen

In der Geschichte, die ich noch nicht erwähnt habe, werden die jüdischen Gesetze verspottet: Während des Sabbats fiel zu Zeiten von Erzbischof Ernst, der später alle jüdischen Menschen aus seinem Erzbistum vertreiben ließ, ein Jude in die Kloake eines Abortes. Lt. Sage holten die Juden ihn mit Berufung auf den Sabbat nicht selbst heraus, deswegen verhinderte der Erzbischof auch am Sonntag („unser Sabbat), dass der Mann gerettet werden konnte, weswegen der Arme zwei Tage in der Sch… ausharren mußte.

Sage 77 enthält „Allerlei Curiosa“. Eine dieser Geschichten befasst sich auch mit dem neuen jüdischen Leben, das Friedrich III. von Brandenburg erst Ende des 17. Jahrhunderts in Halle wieder gestattete. Dazu siedelten von Halberstadt kommend sich Juden in der Merkerstraße und den Kleinschmieden an. 1693 fand lt. der Geschichte sogar eine erste jüdische Hochzeit der statt, die aber so viele Zuschauer anzog, dass ein Gang im Hochzeitshaus einstürzte und „sehr viel Leut beschädigt wurden“. Im nächsten Jahr brach bei einem Juden in den Kleinschmieden ein Feuer aus. Schultze-Galléra spricht von „bösen Vorzeichen“, was die Neubesiedlung von Juden in Halle betrifft. Fast so, als hätte er es nicht anders erwartet.

Die namentlich erwähnten Männer Assur Marx und Berend Wolf sind urkundlich nachgewiesen. Ende des 17. Jahrhunderts lebten wieder 4 jüdische Familien in Halle. Das jüdische Leben begann sich wieder zu entwickeln, aber das verlief bereits außerhalb der Welt der Sagen.

Torsten Kreutzfeldt für Lebendige Geschichte e.V.

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