Halle

Zeitkapsel von 1956: Seuchen und Trothas Fürstin

Erst jetzt kommt der erste Beitrag im Jahr 2021! Auch in diesem Jahr schaut es pandemiebedingt traurig aus mit der „Lebendigen Geschichte“, mit Veranstaltungen und Museumsbesuchen. Dennoch wird es so einige Themen geben, mit denen wir uns wenigstens theoretisch, zum Beispiel hier im Blog beschäftigen können. Ein Thema, um ein Beispiel zu nennen, wäre nicht nur in Halle, sondern für ganz Deutschland interessant: Mind. 1700 Jahre Jüdisches Leben auf dem Gebiet, auf dem sich unsere Republik heute befindet. Auch ein pflanzliches Thema, die Haferwurzel, habe ich im Sinn.

Wir werden darauf zurückkommen. Denn heute wollen wir zunächst eine Zeitkapsel öffnen, die bereits in den vergangenen Festtagen zum Jahreswechsel in meine Hände fiel: Es handelt sich um einen dicken gebundenen Band des III. Jahrgangs der Halleschen Monatshefte für Heimat und Kultur von 1956. Diese stark lokalhistorisch, kulturell und archäologisch geprägten Hefte erschienen zuerst im Jan. 1954 und wurden vom Rat der Stadt Halle, Abt. für Kultur, herausgegeben. Das letzte Heft erschien lt. Universitätsbibliothek Halle im November 1964. Damit wurde das Erscheinen eingestellt. Der Preis betrug (Jan. 1956) 50 Pf.

Halle im Seuchengeschehen der Jahrhunderte

Der bemerkenswerteste Artikel wurde in zwei Teilen in Heft 5/56 und Heft 6/56 unter dem Namen „Halle im Seuchengeschehen der Jahrhunderte“ von Prof. Dr. W. Friedrich Winkler veröffentlicht. Da wir uns gerade selbst im Seuchengeschehen befinden, ist dieser Artikel trotz des Alters von einer erstaunlichen Aktualität. Prof. Winkler schaute zurück und nicht vorwärts. Für ihn war das Zeitalter der Seuchen Geschichte bzw. eine Sache von „weniger kultivierten Teilen der Erde“. Ein pandemisches Geschehen wie heute konnte er sich nicht (mehr) vorstellen. Dabei gräbt Winkler tief in der Vergangenheit und kann bereits in der Ära der Ottonen beginnen: Zwischen 984 und 1009 findet er allein sieben Jahre, in denen in Halle Dürre, Teuerung und Pestilenz mit vielen Toten herrschte. 1006 soll dieses Geschehen drei Jahre angedauert haben und die Lebendigen haben aus Furcht auch die Kranken zu den Toten in tiefe Gruben geworfen. Lebrakranke wurden ab 1240 in Halle am Ulrichtstor im St.Antonius-Hospital untergebracht. Die Krankheit war unheilbar. Man war dort lebendig tot, bis man starb. Das Ausbreiten der Pest erklärt sich Winkler mit der Verdrängung der Wanderratte (R. norvegicus) durch die Hausratte (R. Rattus). Die erste Pestwelle im 14. Jahrhundert kostete Halle 3000 Menschen (von max. 10 000), „in dem Barfüßler Kloster blieben von 30 nur 3 Brüder am Leben“ (Winkler, S. 191). Der Pest-Friedhof lag auf dem Martins-Berg. Dort steht heute der berühmte Stadtgottesacker im Camposanto-Stil. Noch weitere 4 Wellen erlebte Halle im 14. Jhd. , trotzdem behielt die Stadt ihre Einwohnerzahl von ca. 10 000 Menschen. Weitere 14 Pestwellen folgten im 15. Jhd. Bis 1452 starben ein Drittel der Bevölkerung der Stadt (inzwischen ca. 15 000). „Auf dem Platz vor dem oberen Galgtor, dem Galgenhügel gegenüber, errichtete man 1455 eine Betsäule …“ (Winkler, S. 191). Diese Betsäule ist vor wenigen Jahren restauriert worden und besteht bis heute, 1972 endgültig umgesetzt zum heutigen Platz.

Betsäule Halle
Betsäule Halle

Damit war die Seuche aber keinesfalls aus der Saalestadt verbannt. Kein Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts verging, ohne dass nicht ein oder zwei Wellen der Pest (vermutlich) die Einwohnerzahl der Stadt dezimierten, 1541 waren es 4000, 1565/66 kostete es 7000 Menschenleben. Winkler fasst zusammen: „Die Menschenverluste des Jahrhunderts waren fast zweimal so groß wie die Einwohnerzahl. Viele alte Patrizierfamilien starben aus“. Im 17. Jhd. wurde es nicht besser. 1660 zählte die Stadt nur noch 9000 Einwohner, von Seuchen und den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs hinweggerafft.

1493 wird eine neue Krankheit das erste Mal erwähnt, nämlich die „Franzosenkrankheit“, d.i. die Syphilis, die sich in ganz Europa ausbreitete. Lockere Sitten gab es auch in Halle, wahrscheinlich tauchte die Syphilis in den Badehäusern, aber auch in den betreffenden Einrichtungen „hinter dem Schlamm, jetzt der Nicolaistraße, seine Finkenflucht und in der Tobe oder tauben Gasse schon im 14. Jahrhundert seine Tittenklap für bunte Frauen“ (Winkler S. 193) auf. 1503 war die Syphilis in Halle angekommen. Es ist wahrscheinlich, dass Erzbischof Ernst II. von Sachsen daran litt, was die Hallenser sehr erfreute, dies wurde als Strafe Gottes für seinen Sieg 1479 über Halle und für die Errichtung der Moritzburg gewertet.

Auch der sogenannte „Englische Schweiß“, von dem bis heute unklar ist, um welche Krankheit es sich handelte, fiel über Halle her: Das kostete bei der zweiten Welle, die über Europa fegte, 1543 in Halle 4000 Menschen, in Glaucha und Neumarkt noch einmal 2000. 1404, auch 1413, mit Sicherheit 1580/82 stellt Winkler erste Grippeepidemien fest, die allerdings nur wenige Menschenleben kosteten, weitere Wellen folgten. Die Pocken, seit dem 6. Jhd. bekannt, kann Winkler erstmals 1596 ermitteln. Es folgten aber sofort die Daten 1641 und 1647, im letztgenannten Jahr starben 254 Kinder. Winkler geht von einer Durchseuchung der Erwachsenen aus, da auch in weiteren Berichten nur der Tod von Kindern genannt wird. Die Jennersche Pockschutzimpfung bekämpfte die Pocken erfolgreich, dennoch kam es in Halle durch mangelhafte Impfung und keiner Durchseuchung zu zwei Epidemien in den Jahren 1857 und 1871. Im letztgenannten Jahr starben 207 Menschen, 3/4 davon Erwachsene.

Die nächste Krankheit, die über Halle herfiel, war die rote Ruhr oder Dysenterie. Sie wurde 1625 von den Truppen Wallensteins eingeschleppt, die in der Stadt Quartieraufnahme forderten. Der Einschleppung folgte 1625 ein weiterer Ausbruch der Pest, der in der von der Ruhr geschwächten Bevölkerung 3400 Opfer forderte. Die Befreiungskriege brachten 1813 Typhus nach Halle, einschließlich der Soldaten starben 2914 Menschen.

Der angesehene Prof. Peter Krukenberg stellte 1831an einem am 20. Dezember verstorbenen Lumpensammler names Köhler den ersten Cholerafall in Halle fest. Die 1. Welle in Europa dauerte von 1826 bis 1837. Sie war von Indien aus eingewandert. Vorsorgemaßnahmen in Halle fruchteten am Ende nichts. Am 06.01. 1832 traten weitere Fälle auf, ein Gasthof vor dem Steintor wurde zur Isolieranstalt. 854 von 25 000 Einwohnern erkrankten, 487 starben, deswegen mußte der Stadtgottesacker erweitert werden. Bereits Dezember 1848 war die Cholera ein zweites Mal in Halle. Es starben 1217 der ca. 32 500 Einwohner. Besonders traf es die Altstadt, während die Franckeschen Stiftungen verschont blieben. In der 3. Cholerawelle hatte Halle 1866 noch einmal 1508 Tote bei 3066 Erkrankungen. Bereits 1855 hatte man mit der Kanalisation Halle begonnen. Als Wasser- und Abwasserversorgung modernisiert waren, blieb Halle von weiteren Wellen verschont. Lediglich in der Heilanstalt Nietleben starb ein geringer Prozentsatz der Insassen an einer aus Hamburg eingeschleppten Infektion. Die Choleramaßnahmen, die neu gebildete Sanitätskommissionen im 19. Jhd. anordneten, erinnern stark an unsere heutige Situation: Die Kranken wurden isoliert, die Ansteckungsverdächtigen kamen in Quarantäne. Menschenansammlungen wurden verboten. Messen, Märkte, Vergnügungsstätten wurden geschlossen. Die Schulen wurden geschlossen, der Reiseverkehr unterbunden.

Die vorletzte große Epidemie war die spanische Grippe 1918/19 in Halle und kostete 556 Menschenleben. Winklers Wunsch von 1956, dass Halle keine Epidemien mehr erreichen mögen, wie es Dreyhaupt und Runde vor ihm erträumten, wurde nicht erfüllt: Die aktuelle Pandemie von Covid-19 ergab bis zum heutigen Tag über 6 000 Infektionen, 190 Menschen starben.

Die Fürstin von Trotha

Alle anderen Artikel in dieser Zeitkapsel sind natürlich nicht von dieser erschreckenden Aktualität. Herausgreifen möchten wir deswegen noch etwas Archäologisches aus dem Stadtgebiet: Dr. Voigt schildert ausführlich Vorgeschichte und Fundorte der Halleschen Kultur. Besonders auffällig war ein reich ausgestattetes Körpergrab aus der Trothaer Straße 2. Haar-, Arm- und Halsschmuck verliehen der bestatteten Frau im Alter von 25-30 Jahren bereits 1956 bei Führungen im Landesmuseum den Spitznamen „Fürstin von Trotha“. Ob seine Annahme, dass es sich bei der Toten um eine „Keltin“ handelt, heute noch standhält, ist nicht Gegenstand unserer heutigen Schilderung. Er schließt mit der Feststellung, dass sich reichausgestattete Gräber der Halleschen Kultur nur bei Frauen finden. Auch diese Aussage steht natürlich unter Vorbehalt des heutigen Forschungsstandes.

Blick in die Zeitkapsel

Der Blick in die Zeitkapsel könnte unendlich fortgesetzt werden. So lohnt auch ein Blick in die mittelalterlichen Schöffenbücher aus Halle, Gegenstand einer kleinen Ausstellung vor Kurzem im Stadtmuseum. Auch Tagebucheinträge aus dem 19. Jahrhundert ergaben wunderbare Einblicke zum Alltagsleben in Halle. Dagegen waren Reiseberichte aus Prag, China, Schweden usw. weniger erhellend. Aber wußten Sie schon, dass Caspar David Friedrich den Hallmarkt von Halle 1820 als nächtliche Seehafenphantasie gemalt hat? Nein, dann könnte diesem Beitrag vielleicht eine Fortsetzung folgen oder sie schauen selbst in die alten Hefte hinein, wenn verfügbar.

Torsten Kreutzfeldt

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