Lübeck

Constins Kreuzweg in Lübeck

Als nachösterlichen Beitrag in unserem Blog widmen wir uns einer religiösen Praxis, die erst im Spätmittelalter auftauchte und an vielen Stellen durch die Reformation rasch wieder verschwand. Manchmal bleiben steinerne Zeugen zurück und die Erinnerung. Es handelt sich um die sogenannten Kreuzwege und besonders um den in Lübeck. Dabei geht es ausnahmsweise einmal im Zusammenhang mit der Travestadt nicht um die Hanse oder das Hansemuseum. Und höchstwahrscheinlich stand am Beginn der Entstehung des Lübecker Kreuzwegs etwas, was wir heute einen Femizid nennen würden.

Legende, aber nie vergessen!

Etwas habe ich mich schon gewundert, als meine Schwester mir einen Ostergruß schickte, den ich nach den Feiertagen in meinen Emails fand. Darin stand etwas von einer Wiederentdeckung des Lübecker Kreuzwegs durch den katholischen Lübecker Propst Helmut Siepenkort im Jahre 1994, als sei der Jerusalemsberg und der dorthin führende Weg in der Hansestadt längst vergessen. Ich weiß ja nicht, wo dieser Herr Siepenkort seine Jugend verbracht hat, aber in Lübeck anscheinend nicht. Immer schon war uns bewußt, als wir als Jugendliche oben auf dem Jerusalemsberg standen, dass hier etwas geendet hatte, ein Kreuzweg wie in Jerusalem oder ein Pilgerweg.

In meinem Besitz befindet sich noch das „Lübecker ABC“ mit Zeichnungen von Carl Julius Milde und Texte von Otto Anthes (meine Ausgabe ist von 1959, Verlag Lübecker Nachrichten). Und tatsächlich ist der Jerusalemsberg, auf dem sich der Endpunkt des Kreuzwegs befindet, unter dem Buchstaben „J“ im „ABC“ aufgeführt. Dort heißt es: „Herr Constin war im Heiligen Land gewesen … Als er wieder heimgekehrt war, beschloß er, genau nach den Maßen, die er in Jerusalem erkundet hatte, in Lübeck einen Kreuzweg zu stiften.“ Der Jerusalemsberg hatte seinen Namen also nicht aus Zufall. Ein Herr Constin war tatsächlich in Jerusalem gewesen (nicht nur als Legende, Quellen bestätigen das s.w.u.) und als Lübecker Patrizier, dem es selbst bei schwerer Schuld um Genauigkeit ging, war er auch peinlich darauf bedacht den „Lübecker Kreuzweg“ nach den Maßen wie in Jerusalem zu gestalten.

Constins Kreuzweg war den alten Lübeckern also keinesfalls aus dem Gedächtnis entschwunden. In den bekannten Legenden war der Kreuzweg noch sehr präsent. So sollte wohl eher von einer Wiederbelebung durch den katholischen Glaubensbruder gesprochen werden und das ist richtigerweise auf ökumenische Weise erfolgt. Wann aber kamen Kreuzwege in der Form wie der in Lübeck in „Mode“?

Kreuzwege, ein später Brauch

Der Kreuzweg von der Jakobikirche bis zum Jerusalemsberg auf einer historischen Karte aus dem 19. Jhd. ungefähr nachgezeichnet.

Kreuzwege sind keine religiöse Praxis aus der Frühzeit des abendländischen Christentums oder dem katholischen Hochmittelalter, sondern ihr Brauch begann erst im 14. Jhd., als der Franziskanerorden geistliche Wallfahrten ins Heilige Land, Palästina, förderte und unterstützte. Viele dieser Wallfahrer brachten aus Jerusalem den Brauch mit, die Strecke von „Pilatus Haus“ bis nach Golgatha, der Hinrichtungs- und Begräbnisstätte Jesu, betend abzuschreiten. Zunächst entstanden in der Heimat auf geeigneten Hügeln sogenannte Kalvarienberge. Wenn kein geeigneter Hügel, wie im Falle Lübecks, vorhanden war, wurden diese sogar aufgeschüttet, ähnlich den Burgbergen von Turmhügelburgen oder Motten. Die Anzahl der Stationen des Kreuzwegs war sehr unterschiedlich. In Deutschland waren lange 7. Kreuzwegsstationen üblich. So ist also anzunehmen, dass Constins Kreuzweg auch 7. Stationen hatte. Zwei davon, der Startpunkt an der Jakobikirche, passenderweiser der Wallfahrerkirche, und das Bildnis auf dem Jerusalemsberg, dem aufgeschütteten Kalvarienhügel, sind heute noch erhalten. Erst ab ca. 1600 setzten sich 14. Stationen durch. Die Bildnisse, die die Stationen versinnbildlichten, konnten recht unterschiedlich sein. Kreuzwegsstationen im Innern der Kirchen, wie wir sie heutzutage oft in katholischen Gotteshäuser sehen, sind ein recht später Brauch und setzten sich erst ab dem 18. Jahrhundert durch.

Frau Elsabes Tod

Elsabe Constin war eine geborene von Calven. Sie wohnte mit ihrem Mann Hinrich im Hoghe Hus am Koberg 2. Von dort sind es bis zur Jacobikirche nur ein paar Schritte. Hinrich Constin, Elsabes Mann, gehörte zum Patrizieradel von Lübeck. lt. Quellen war er 1467 Ratsherr. Zwischen diesen beiden belegten Daten muß er seine Frau erschlagen haben. Im Jahr 1468 war er nachweislich im Heiligen Land. Erst 1482 starb er, lt. Quellen kinderlos (entgegen der Legende, in der er in der aus Nowgorod zurückgekehrten Enkelin seine Frau wiedererkennt). Sein Vermögen vermachte er zum Teil der Stadt Lübeck mit der Auflage, den von ihm gestifteten Kreuzweg fertig zu stellen, was erst 1493 vollendet wurde. Warum sind wir so fest davon überzeugt, dass die Legende über Frau Elsabes Tod der Wahrheit entspricht?

Koberg Lübeck, Blick aufs Heilig-Geist-Hospital (rechts)

Im Spätmittelalter kamen Wall- oder Pilgerfahren als Sühneleistung auf. Diese konnten nach Jerusalem, Santiago de Compostela, nach Rom oder zu einer der kleineren Wallfahrtstätten gehen. Die Fahrt von Hinrich Constin nach Jerusalem muß als große Schuld gedeutet werden. Tatsächlich heißt es in der Legende nach dem oben erwähnten „Lübecker ABC“ genauso: „Herr Constin war im Heiligen Land gewesen, eine schwere Schuld abzubüßen. Er soll seiner zarten Frau [Elsabe von Calven], obwohl er sie so sehr liebte, im Jähzorn so weh getan haben, daß sie daran verstarb.“ Sieht schon sehr danach aus, was wir heute einen Femizid nennen würden und was die Presse so gerne mit „häuslicher Gewalt“ oder „Familiendrama“ zu verschleiern sucht.

Eine Mordanklage beim Rat gab es anscheinend nicht. Aber Legende und Wallfahrt deuten auf die Schuld Hinrich Constins hin. Er sah diese mit seiner Pilgerreise anscheinend nicht vollständig abgegolten, stellte sicher, dass der Sühnekreuzweg auch nach seinem Tod fertiggestellt werden konnte. Vielleicht sollten sich die heutigen Iniatoren überlegen, eine Station Frau Elsabe zu widmen und damit stellvertretend all den Frauen, die durch ihre Partner oder Familien zu Tode kommen.

Der Lübecker Kreuzweg

Zwar nicht vergessen, waren am Ende nur noch zwei der mutmaßlich sieben ursprünglichen Stationen vorhanden, als der oben erwähnte kath. Probst 1994 erste Überlegungen zu einer Wiederbelebung anstellte. Lt. dem Lübecker Sozialdemokraten Björn Engholm begann alles noch etwas später: „Genau genommen begann alles im Jahr 2004,“ erläutert Björn Engholm: „als wir zu viert, also Jakobipastor Lutz Jedeck und ich mit dem damaligen katholischen Propst Helmut Siepenkort und Bürgermeister Bernd Saxe zusammensaßen und über die Idee eines ökumenischen Kreuzweges berieten. Propst Siepenkort und Pastor Jedeck waren ja seit einigen Jahren dabei, am Karfreitag den Kreuzweg nachzuempfinden. Und nun wollten wir den Kreuzweg im Sinne von Hinrich Constin auch der ganzen Stadt Lübeck wiedergeben.“ (Zitiert nach Ökumenischer Kreuzweg 2020). Inzwischen gibt es 5 neugestaltete Stationen auf dem Kreuzweg. Politiker wie in diesem Jahr der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Daniel Günther, erinnern gerne an die Lübecker Märtyrer: Demokratie und Freiheit sind immer wieder in Gefahr. Und es gehe darum, Menschen entgegenzutreten, „die unser System verändern wollen, die sich gegen Demokratie stellen wollen und auch Menschenrechte nicht achten. All das sind Prüfungen, denen auch wir heute ausgesetzt werden“, so der Ministerpräsident. Lübecks Märtyer sind die drei katholischen Priester Johannes Prassek, Eduard Müller und Hermann Lange sowie der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink. Sie stellten sich mutig dem Nationalsozialismus entgegen und wurden am 10. November 1943 in Hamburg durch Enthauptung ermordet.

Es ist schön, dass mit diesem ökumenischen Kreuzweg am Karfreitag jedes Jahr an Hinrich Constin und besonders an die Lübecker Märtyrer erinnert wird. Vor Entstehen dieses Kreuzwegs stand jedoch eine schwere Schuld, der Tod von Elsabe Constin. Vielleicht täusche ich mich, aber sie scheint mir bei dieser Wiederbelebung vergessen worden zu sein. Entschuldigung, auch wenn es historisch und überlängst verjährt, so stellt Lübeck doch den Täter in den Vordergrund, vergißt das Opfer.

Noch ein Link dazu: http://www.kreuz-und-maertyrerweg.de . Die Grafik (Ausschnitt) des Jerusalemsberg im Header ist nach einer Zeichnung von Carl Julius Milde, radiert von F.W.E. Bollmann.

Im nächsten Blogbeitrag wird es um die sehr interessanten youtupe-Aktivitäten unserer Vereinsmitglieder gehen.

To. Kreutzfeldt

Schreibe einen Kommentar