Mittelalter

Die Stabkirchen, Norwegens Einzigartigkeit

Bei einer Norwegenreise steht in erster Linie das Landschafts- und Naturerleben im Vordergrund: Fjorde, Gletscher und Hochgebirgstouren. Dazu kommen Aktivitäten, die damit zusammenhängen, angefangen beim Lieblingssport vieler Norwegenreisender, dem Angeln. Junge Leute kommen in Scharen zum stundenlangen Wandern zusammen, um sich an sensationellen Felsvorsprüngen und Felsnadeln zu fotografieren oder fotografieren zu lassen, um es zu „instagramen“. Stichworte sind z.B. Preikestolen oder Trolltunga. Unser zweiter Beitrag zu Norwegen soll jedoch Norwegens einzigartiger Beitrag zur Kulturgeschichte der Menschheit berücksichtigen, die Stabkirchen. Wir haben nur einen kleinen Ausschnitt der Vielfalt dieser Bauwerke erleben dürfen, aber das war bereits atemberaubend.

Stabkirche Røldal

Nein, es sind nicht die Wikinger, die Norwegens Geschichte einzigartig macht, denn die gab es im ganzen Nord- und Ostseeraum, sondern eben die nachwikingerzeitlichen Stabkirchen. Von der geschätzten einstigen Anzahl von ca. 1000 Holzkirchen dieses Typs existieren heute nur noch 29 Originalkirchen. Die älteste davon entstand um 1130 mit Bauteilen aus dem 11. Jhd. Die jüngste Stabkirche wurde erst im 17. Jhd. errichtet. Die Norweger gehen allerdings davon aus, dass die meisten dieser einzigartigen Holzkirchen bis etwa 1350 erbaut worden sind.

Langlebigkeit garantiert, Sturmsicher!

Aber eine Stabkirche ist nicht einfach eine Holzkirche, sondern eine durchdachte architektonische Konstruktion, allein von Holzverbindungen und Hartholznägeln zusammengehalten, aus mit Wurzeln jahrelang langernden Kernholzkiefern gebaut, die viel Harz enthalten (Eigenkonservierung), das hat lange Lebensdauer bereits in der Konstruktionsphase garantiert. Ihren Namen erhilten die Kirchen von den tragenden Säulen und Masten, den Stäben, denn dies ist eine völlig andere Bauart als die Blockbauweise. Vorgänger der Stabkirchen waren vermutlich Pfostenkirchen, bei denen die Stämme in den Boden eingegraben waren. Diese Bauwerke hielten keine 100 Jahre. Spätestens in der 2. Hälfte des 11. und im 12. Jahrhundert erhielten die Kirchen ein Fundament aus Stein. Die tragenden Stäbe lagen nun trocken auf und gewährleisteten zusätzlich zum dauerhaften Baumaterial eine lange Erhaltungsdauer, in 29 Fällen sogar bis heute. Zusätzlicher und regelmäßiger Teerauftrag gewährleistete Schutz gegen die Feuchtigkeit von außen. Auch Stürme konnten den Stabkirchen kaum etwas anhaben, denn ein komplexes System aus Streben, Bändern und Knaggen gewährleistet Standhaftigkeit.

Baumeister Torolf

Zur Einzigart der Stabkirchen kommen meisterhaft geschnitzte Portale hinzu, deren Beschreibung ein eigener Beitrag wert wäre. Aber wir können einen Baumeister namentlich erwähnen: Denn einige von ihnen, wie z.B. Torolf, hinterließen in den Stabkirchen Runeninschriften. Baumeister Torolf hatte die Stabkirchen von Torpo (teilweise erhalten) und die von Ål (abgebrochen) errichtet und ggf. viele mehr, von denen wir nicht mehr wissen. Zusammen mit seinen Gesellen hatte er sich mit Inschriften verewigt. Anhand der Namen wissen wir, dass er mit verschiedenen „Teams“ gearbeitet hat. Auch in der „ursprünglichsten aller Stabkirchen“, Borgund, gibt es Handwerkerzeichen an zwei Stellen.

Aber die Kunst von Meistern wie Torolf war für die Architekten des 19. Jahrhunderts schier unverständlich Der Autor Lars Mytting faßt dies in seinem Roman „Søsterklokkene“ fiktiv zusammen: „Diese Konstruktion werde ich nie begreifen, dachte er. Die ganze Kirche wirkt, als wäre sie zusammengewachsen und dann in einen geheimnisvollen Firnis getaucht worden worden, der sämtliche Spuren von Bautechnik und Handwerk verhüllt, nicht eine einzige Holzverbindung, keine Fuge verrät etwas.“

Die Pest machte dem „Bauboom“ ein Ende

Die Pest, über den Handelsplatz Bergen auch nach Norwegen eingedrungen, dezimierte die Bevölkerung des Landes stark und war auch das Ende vieler mittelalterlicher Stabkirchen, denn in Gegenden, in den 200 Jahre keine christlichen Gemeinden mehr existierten, verfielen auch die dazugehörigen Kirchen rasch. Um 1650 wurden nur noch 270 Stabkirchen gezählt, andererseits zeigen Beispiele wie der Glockenturm von Borgund oder die Kirche Grip, dass im 17. Jahrhundert noch in Stabbauweise gearbeitet wurde. Datierungen von Grip im Internet, wie zum Beispiel bei Wikipedia, sind überholt. Neuuntersuchungen zeigen, dass die Inselkirche tatsächlich erst sehr spät entstand.

So wurden also auch nach der Reformation noch Stabkirchen gebaut oder renoviert, bzw. ergänzt. Dennoch ging die Zahl weiter herunter: 1800 gab es noch 70 dieser einzigartigen Bauwerke. Im 19. Jahrhundert machten Kirchengesetze, die Mindestgrößen für Kirchen vorsahen, und Modernisierungswünsche der Ortsgemeinden (wie in Myttings Roman so anschaulich beschrieben) weiteren Stabkirchen den Garaus. Gleichzeitig kämpften Volkskundler und Künstler wie Johan Christian Clausen Dahl, ein Freund von Caspar David Friedrich, für deren Erhalt. Das schoss mitunter über das Ziel hinaus: Einige Stabkirchen wurden „authentisch“ zurück gebaut. Borgund war hier das viel beanspruchte Vorbild. Einige noch vorhandene Bauwerke wurden versetzt und sind heute an anderer Stelle in Freilichtmuseen oder sogar in Polen zu bewundern. Selbst König Oskar II. von Norwegen und Schweden beteiligte sich an derartigen „Rettungsaktionen“ (Stabkirche Gol, heute in Oslo). Das krasseste Beispiel ist die Stabkirche Vang. Sie wurde 1841 abgerissen, vom preuss. König Fr. Wilhelm IV. gekauft und völlig verändert in Schlesien, heute Korpacz in Polen, wieder aufgebaut. Die heute ins Kircheninnere zeigenden Pachtportale sind einen Besuch wert.

Stabkirche Ringebu

Ein Brandanschlag von 1992!

Bei aller Begeisterung über die in Polen erhaltene und gut besuchte Stabkirche: Von der vor der Umsetzung noch vorhandenen Bemalung (dokumentiert) blieb nichts. Der Romantik des 19. Jahrhunderts passte die Buntheit mittelalterlicher Kirchen (und die Buntheit der Antike) nicht!

1992 zählten wir noch 30 originale Stabkirchen (Nachbauten wie die im Harz oder in den USA sind nicht original bzw. besitzen keine originalen Bauteile!). Die Stabkirche von Fantoft/Fortun stand einst am Sognefjord im Dorf Fortun, wurde nach Bergen in den Stadtteil Fantoft versetzt und nach dem Vorbild von Borgund mit Bauteilen ergänzt (oder romantisiert!). Sie brannte am 6. Juni 1992 nach dem Anschlag eines Rechtsextremisten völlig aus. Dessen Ideen von Neuheidentum und nordischer Rasse verweisen bereits auf einen anderen norwegischen Attentäter, nämlich auf den Massenmörder von Oslo und der Insel Utøya von 2011. Dem Brandstifter von Fantoft konnte die Tat im Prozess nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, allerdings kam er wegen Mordes und Brandstiftungen an andere Kirchen in Haft. 2009 gab er die Brandstiftung indirekt in einem Dokumentarfilm zu. An die Stabkirche von Fantoft bzw. dessen romantisierte Fassung nach dem Vorbild von Borgund erinnert inzwischen eine Rekonstruktion in Bergen. Weitere Nachbauten, wie bereits erwähnt, finden sich auf der ganzen Welt so im Harz und in South Dakota.

Die Hälfte der originalen Stabkirchen wird heute noch als Gemeindekirchen benutzt (So können die Türen auch verschlossen sein und es keinen Hinweis auf Öffnugszeiten geben), 8 Kirchen gehören dem norwegischen Nationaltrust (Fortidsminneforeningen) und haben Museumscharakter z.T. mit Besucherzentren, 3 Kirchen stehen stehen zudem in Freilichtmuseen. Das Stabkirchenprogramm der norwegischen Denkmalpflege hat für den Erhalt und Restaurierung aller Stabkirchen für die nächsten Jahre gesorgt.

Liste der 28 norwegischen Stabkirchen:

28 der erhaltenen originalen Stabkirchen stehen heute noch in Norwegen. Das sind (A bis Z):

  1. Borgund (Museumskirche, Besucherzentrum)
  2. Eidsborg (Heimatmuseum, Gemeindekirche, im Sommer geöffnet)
  3. Flesberg (Gemeindekirche, für Besucher geöffnet)
  4. Garmo (Freilichtmuseum Maihaugen)
  5. Grip (im Sommer geöffnet, gel. Gottesdienste)
  6. Gol (Freilichtmuseum in Oslo)
  7. Haltdalen (Freilichtmuseum Trondheim)
  8. Hedalen (Gemeindekirche, geöffnet)
  9. Heddal (Gemeindekirche)
  10. Hegge (Gemeindekirche, geöffnet)
  11. Høyjord (Gemeindekirche)
  12. Høre (Gemeindekirche, im Sommer geöffnet)
  13. Hopperstad (Museumskirche)
  14. Kaupanger (Museumskirche, gel. Gottesdienste)
  15. Kvernes (Museumskirche)
  16. Lom (Gemeindekirche, im Sommer geöffnet)
  17. Lomen (im Sommer geöffnet)
  18. Nore (Museumskirche)
  19. Øye (Museumskirche, gel. Gottesdienste)
  20. Reinli (im Sommer geöffnet)
  21. Ringebu (Gemeindekirche, geöffnet)
  22. Rødven (Museumskirche)
  23. Røldal (Gemeindekirche, im Sommer für Besucher geöffnet)
  24. Rollag (Gemeindekirche, im Sommer geöffnet)
  25. Torpo (Museumskirche, nur noch teilweise erhalten)
  26. Undredal (Gemeindekirche)
  27. Urnes, älteste Stabkirche (Museumskirche)
  28. Uvdal (Museumskirche)

Links:

Borgund digital: https://fortidsminneforeningen.no/en/news/digitale-borgund/

Liste der Stabkirchen mit Karte auf Visitnorway: https://www.visitnorway.de/typisch-norwegisch/stabkirchen/

Titelbild: Stabkirche Borgund,Text und Fotos: T. Kreutzfeldt

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