Judentum

Die Judenvertreibung der anderen?

Der Eindruck entsteht, wenn es um die Vertreibung von Juden im mittelalterlichen Europa geht, dass gerne auf die iberische Halbinsel geschaut wird, obwohl die mittelalterliche Geschichte Spaniens vorher kaum jemanden interessiert hat. Es ist also eine Judenvertreibung der anderen! Aber ein Eindruck reicht natürlich nicht, da sollte schon genauer hingeschaut werden, ob die oben aufgeführten Behauptungen tatsächlich zutreffen. Wie wird die Tatsache der Vertreibung von Menschen mosaischen Glaubens aus Städten, Regionen und ganzen Herrschaften vermittelt? „1939 waren 94 % aller Juden aschkenasischer Abstammung, und im 21. Jahrhundert machen sie etwa 70 % aus.“ (Wikipedia) Die meisten Juden in Mittelalter sind damit auch offenkundig mit Zahlen nachweisbar nicht aus spanischen Königreichen, sondern aus dem Heiligen Römischen Reich (deutschen Länden und Reichsstädten) vertrieben worden. Dabei erhebt der folgende Artikel keinerlei wissenschaftlichen Anspruch, sondern ist nur eine Diskussionsgrundlage, auf der aufgebaut werden kann.

Mikwe Erfurt Innenansicht Foto: Seidel, Museum alte Synagoge, Pressemappe.

Nehmen wir ein wahllos in die Hand genommenes Geschichtsbuch Klasse 6, Gymnasium, aus dem Cornelsen-Verlag, das aktuell 2023 in der Schule benutzt wird: „Die Juden wurden aus Regionen und sogar aus Ländern vertrieben: aus England (1290), Frankreich und schließlich aus Spanien (1492). Vor allem in Osteuropa fanden sie eine neue Heimat“. Was ist daran verkehrt? Der Zusammenhang besteht aus dem Inhalt: Juden in der mittelalterlichen Stadt in D. z.B. Quedlinburg (Bildteil). Aber wann Juden aus dem Rheinland, aus Erfurt oder aus Halle vertrieben worden sind, steht am Ende nicht. Hier vertreiben nur England, Frankreich und Spanien (das es zu dem Zeitpunkt, nebenbei bemerkt, noch gar nicht gegeben hat). Es wird über Pogrome und Vernichtung ganzer Gemeinden berichtet. Orte fehlen allerdings. Auch hier entsteht der Eindruck, das geschieht nur in den bereits genannten drei Ländern. Nichts weist auf Vertreibungen im dt. Reich hin. Und alle Juden gingen nach Osteuropa? Gut, ziemlich viele, aber die sp. u. port. Juden eben nicht.

Eine Autorität ist der „Putzger: Atlas und Chronik zur Weltgeschichte“ (erschienen im Cornelsen-Verlag). Vielleicht findet sich hier Genaueres. Aber: Hier findet die Verfolgung der Juden im Mittelalter fast ausschließlich in Spanien statt. Wo die Vertriebenen abgeblieben sind, fand nicht das Interesse der Geschichtsatlasmacher. Sie hatten zu tun, die genauen Frontlinien bei der Eroberung von Granada aufzumalen. Das mag hier flapsig kommentiert werden, zeigt aber den Schock auf, den man bekommt, wenn Geschichtswerke, die auch für den Einsatz in der Schule gedacht sind (hier ein Schulbuchverlag), noch im 21. Jahrhundert eher Strukturen aufzeigen, die eher imperialen Denken des 19. Jahrhunderts vergleichbar sind.

Vorbildlich ist der Perthes Atlas Geschichte (jetzt: Klett-Perthes Atlas zur Weltgeschichte) aus dem Klett-Verlag. Dieser bildet auf zwei Seiten die Judenvertreibung aus den deutschen Herrschaften mit vielen Jahreszahlen in Richtung Osteuropa grafisch und informativ gut, prägnant und faktisch richtig ab. Allerdings haut auch Perthes/Klett am Ende mit seiner Zeitauflistung der Vertreibungen in die Kerbe „Erst haben die anderen vertrieben, dann wir“, weil es erst hinter Spanien u. Portugal aufführt: „14./15. Jh. Fast alle Territorien und Reichsstädte des Heiligen Römischen Reiches“. Bei dieser präzisen historischen Bezeichnung hätte Perthes auch zwischen den Königreichen León-Kastilien, Aragón und Navarra unterscheiden müssen. Spanien war noch gar nicht vorhanden. Erst ab 1516 mit Karl I. kann von einem Königreich Spanien gesprochen werden.

Ein Blick noch ins „Lexikon des Mittelalters“ (dtv-Ausgabe, kurz LMA), hier erwartet man Kompetenz und so ist es auch. Es gibt einen eigenen Artikel „Judenfeindschaft (-haß, -verfolgung). Hier wird der Antisemitismus im Christentum zum integralen Bestandteil der mittelalterlichen Theologie erklärt, der zu Zwangstaufen, Vertreibungen, Progromen und Ermordung von Juden geführt hat. („Judensau“-Darstellungen aus dem Mittelalter „beglücken“ uns denkmalgeschützt bis heute). Es wird mit dem Frankenreich begonnen, die kirchlich initiierten Judenverfolgungen im Westgotenreich werden aber vergessen. Mit dem Hochmittelalter wird das LMA wieder präziser. Über das Massaker von Granada (im islamischen Herrschaftsbereich) wird zu den Pogromen des 1. Kreuzzugs im Rheinland übergeleitet, hier werden Speyer und sogar Halle erwähnt, Städte, die Juden Schutz gegen den Kreuzfahrermob gewährten. Es folgen Vertreibung der Juden in England (1290) und Frankreich (um 1394). Zahlreiche Vertreibungen in anderen Ländern und dem dt. Reich werden nicht mehr aufgeführt. Nach Überleitung über Pogrome zur Pestzeit in ganz Mitteleuropa (1348-50) wird die Vertreibung von Juden erst wieder auf der spanischen Halbinsel interessant bis hin zur Zwangsausweisung aller Juden unter den kath. Königen Isabela von León-Kastilien und Fernando von Aragón im Jahr 1492. Wie es zur großen Fluchtwelle und der Besiedlung von Osteuropa durch aschkenasische (deutsche) Juden kam, bleibt hier ungeklärt. War das LMA damit überfordert? Schauen wir in den betr. Abschnitt Aschkenaz. Und? Hier gibt es lediglich einen Verweis auf >Juden und keinerlei Erklärung. Wichtiger ist es, im Stichwort Asen die germanische Mythologie zu erklären.

Standort des Mittelalterlichen Judenviertels in Halle inkl. Friedhof außerhalb der Stadtmauern

Im Internet ist alles besser. Oder? In der dt. Wikipedia wird bei der Geschichte der Juden im Mittelalter die iberische Halbinsel sehr stark in den Vordergrund gerückt. Die Vertreibungen in England, Frankreich und dem deutschen Kaiserreich kommen erst später dran. Die Gründe erschließen sich nicht.

Mit der Seite https://aschkenas.de des Tikvah Instituts Berlin bekommen wir wenigstens von den Vertreibungswellen des 14. (z.B. Erfurt Pogrom 1349) und 15. Jahrhunderts einen Eindruck und wohin die Juden aus dem Rheinland und anderen deutschen Städten und Ländern verschwunden sind. Jedenfalls die, die die schrecklichen Verfolgungen überlebt haben. Das ist noch sehr oberflächlich, aber immerhin besser als alles, was Schulbuch, Historischer Atlas und Fachlexikon zu bieten haben (s.o., Ausnahme der Perthes Atlas).

Bevor wir die Ausgangsfrage beantworten, erreichte mich eine Stellungnahme des Cornelsen-Verlages zum zuerst erwähnten Schulbuch. Es ist sehr erfreulich, dass dort nicht abgewiegelt wird, sondern der Verlag gibt sich problembewußt, „Schulbuchanalysen, aber auch einschlägige Vorfälle zeigen, dass Bildungsmedien nicht automatisch davor gefeit sind, Klischees über Juden, Judentum und Israel zu verbreiten.“ (Zitat von Dr. Martin Kloke, Redakteur für Kulturwissenschaften bei Cornelsen). Das ist erfreulich. Zeigt aber auch, dass viele, viele Jahrzehnte nach der Shoah und in einem neuen Jahrhundert die Macher von Bildungsmedien immer noch nicht genug für diese Problematik sensibilisiert sind.

Nein, ganz erschreckend war dieser Ausflug in in die Geschichtsbücher und auf Internetseiten nicht. Allerdings habe ich gedacht, wie wären schon etwas weiter und der erste Eindruck, Geschichtsmedien verschleiern die Judenvertreibungen des Mittelalters gerne als die Vertreibungen der anderen, hat sich nicht vollkommen verfestigt, wurde aber auch nicht von allen Medien überzeugend widerlegt. Die Königreiche auf der iberischen Halbinsel haben vermutlich nur eine Minderheit der jüdischen Bevölkerung vertrieben (darunter auch islamische Regime wie die Almohaden), dies ist aber gut dokumentiert und steht deswegen viel zu oft im Vordergrund. Manchmal wird auch auf England und Frankreich verwiesen, wo sich Judenhass früher festsetzte, zu einer Zeit als kastillischer König und Bewohner von Toledo ihre jüdischen Nachbarn noch vor Kreuzfahrern beschützten. Insgesamt erstaunt jedoch auf der sonst stark auf Deutschland bezogenen Geschichtsschreibung, dass die Vertreibungen der anderen so stark in den Vordergrund gerückt werden und nicht den Vertreibungen in den vielen deutschen Ländern und Städten Richtung Osteuropa im Spätmittelalter mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Dass diese inzwischen gut erforscht sind, zeigt der Perthes Atlas Geschichte und zahlreiche Monographien zur jüdischen Geschichte. Denn was eine Isabela und ein Ferdinand auf der iberischen Halbinsel im Großen trieben, dass vervielfachte sich bei den vielen kleinen Herrschaften im Heiligen Römischen Reich und Menschen, die seit Römertagen ansässig waren und eine deutsche Sprache redeten, mußten ihre Heimat verlassen. Und wenn man von einer historischen Schuld redet, betrifft diese nicht nur die Jahre von 1933-45, sondern diese beginnt schon bei den Kreuzfahrerpogromen und den Vertreibungen des Spätmittelalters. Adelsfamilien, die heute wieder stolz sind auf ihre Vergangenheit, wie Hohenzollern, Wettiner, Welfen, Habsburger und wie sie alle heißen, waren übrigens die Haupttäter, natürlich sekundiert von vielen kleinen Judenhassern und Judenmördern, wie „Judensäue“ und „Ritualmorddarstellungen“ bis hin zu örtlichen Heiligen (Heiliger Werner) heute noch vielfach belegen.

Text: Torsten Kreutzfeldt, Titelbild: Synagoge in Barcelona, Foto: Torsten Kreutzfeldt

Benutzte Veröffentlichungen:

  • Forum Geschichte 6, Sachsen-Anhalt, Das Mittelalter, Düsseldorf : Cornelsen, 2017.
  • Putzger – Atlas und Chronik zur Weltgeschichte, Düsseldorf : Cornelsen, 2002.
  • Perthes Atlas Geschichte, Stuttgart : Klett-Perthes, 2006.
  • Lexikon des Mittelalters, München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002.
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_(Mittelalter)
  • https://aschkenas.de/erinnerungskultur/

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