Hastings

Wilhelm, der Eroberer, ein Kriegsverbrecher?

Als das Verbrechen, die „Plünderung des Nordens“ auf Befehl von König Wilhelm begann, das nach Schätzungen 100 000 bis 150 000 Menschen durch Hunger das Leben kostete, kehrte laut der Orderic Vitalis ein Soldat der königlichen Armee, Gilbert d’Auffay, in die Normandie zurück und lehnte das Angebot von Besitz in England ab. Er war nicht der einzigste Normanne mit Bauchschmerzen: Ein anderer Soldat des Königs, Reinfrid genannt, fühlte sich durch die Auswirkungen der Verwüstungen und Plünderungen so niedergeschlagen, dass er danach Mönch in Evesham wurde und später nach Yorkshire zurückkehrte, um die verlassene Abtei von Whitby wieder aufzubauen.

Die Corona-Krise möchte ich gerne als neue Chance für unseren Geschichtsblog sehen. Ich möchte hier einen Neustart wagen. Jede Woche soll hier ein großer oder kleiner Beitrag über Geschichte, Archäologie oder Lebendige Geschichte/Reenactment erscheinen. Das wird mir (und weiteren Vereinsmitgliedern) um so leichter fallen, das wir nicht ins Gelände, ins Museum oder zu einer sonstigen Veranstaltung fahren können. Ich persönlich kann noch nicht einmal in meine Leib- und Magenarchäologiebibliothek im Landesamt von Sachsen-Anhalt gehen.

1069, nicht 1066

Beginnen möchte ich mit einem Thema, das hier in unserem Blog bereits mehrmals Erwähung fand: Hastings und die Folgen, z.B. hier… Darüber hinaus sind wir bereits seit Jahrzehnten mit Hastingsreenactern eng verbunden. Die Frage, ob der Sieger der Schlacht, Wilhelm, Herzog der Normandie und danach König von England, ein Kriegsverbrecher ist, erscheint vielleicht für einen Neustart des Blogs gewagt, aber ich denke, gerade geschichtsblogen sollte auch Raum für interessante Fragen neben den herkömmlichen großen Daten und Ereignissen bieten. Zudem ist dieser „schwarze Fleck auf der Seele Wilhelms“ ein auch bei uns nahezu unbekanntes Kapitel der Geschichte Englands. So geht es hier heute also nicht um 1066, sondern um 1069, als der Kampf um England noch lange nicht gewonnen war und die Normannen bei Aufständen viele Männer verloren. In Yorkshire eskalierte die Lage. Wilhelm mußte handeln.

Wilhelm (Mitte) mit seinen Brüdern Odo und Robert auf dem Teppich von Bayeux

Jörg Peltzer betitelt, um die Lage nach der Schlacht zu beschreiben, das vorletzte Kapitel in seinem Buch „1066 – Der Kampf um Englands Krone“ mit „Nach der Schlacht ist vor dem Terror (1066 – 1087)“ und sieht die berühmte Schlacht nur als „erste Runde“ an, die Wilhelm gewonnen hatte. Nun hatte er sich zu verteidigen. Beziehen möchten wir uns heute aber auf den englischen Artikel von Dr Marc Morris, zuerst erschienen im Nov. 2019 im BBC History Magazine mit dem Titel „Was William the Conqueror a war criminal? The brutal story of the Harrying of the North“, in der er eine Episode aus der Zeit nach der Schlacht von Hastings beschreibt, in der die „Versöhnungszeit“, die zum Entstehen des Teppichs von Bayeux führte, definitiv zu einem Ende kam. Wie aber kam es zu dieser Eskalation?

Es hatte bereits schon vorher Aufstände gegen Wilhelm gegeben und er antwortete darauf mit Niederschlagung und den Bau von Burgen, etwas Neues in England. Aber 1069 kam es zu einer Verschärfung der Lage, die den König zu einer solchen drastischen Gegenmaßnahme, dass sie sich im später entstandenen berühmten Domesdaybook niederschlug und selbst manche seiner hartgesottenen Normannen schockierte, wie im Eingangsabsatz beschrieben wurde.

Burgen gab es noch nicht genug im Norden, um die Normannen zu schützen, als der gesamte Norden der Insel plötzlich in Aufruhr geriet. Robert de Comines, der neue Earl, mit Wilhelm in Hastings gekämpft, wurde in Durham zusammen mit seiner Garnison erschlagen, und Angelsachsen, Schotten und Dänen zogen nach York, dort waren zwei normannische Burgen nicht ausreichend, um die Stadt zu verteidigen. York fiel. Wilhelm mußte mit seiner ganzen Heeresmacht in den Norden ziehen, um es wieder in die Hände zu bekommen. Weihnachten 1069 wollte er in York Weihnachten feiern und das mit allen Throninsignien, die er dazu extra aus Winchester holen ließ. Er hatte Glück, die Dänen, obwohl mit über 200 Langschiffen gekommen, stellten sich ihm nicht zur Schlacht und er konnte sich von Ihnen freikaufen. Dem ersten Schritt, diesen wichigsten Feind zu neutralisieren, folgte der zweite: Dänen, Schotten und verbliebene angelsächsische Aufrührer durften Northumbria und die Midlands nicht mehr als Brückenköpfe und Ausgangsbasen für einen die normannische Herrschaft gefährdeten Aufstand nutzen können: Deshalb zogen seine Soldaten aus, um ringsherum das ganze Land zu plündern, zu verheeren und zu zerstören. Während der König in York Weihnachten feierte, war das große Sterben in den Landstrichen ringsherum in vollen Gange, Chronisten berichteten, dass Hunde, Katzen und selbst Menschen gegessen worden sind und am Ende doch das Land wüst und leer danieder lag.

950 Jahre nach dem Genozid im Norden

Normannendarsteller 1066/1069

Aber können wir das Vorgehen Wilhelms wirklich Völkermord nennen? Und hat es wirklich Auswirkungen bis auf den heutigen Tag, wie der Wikipedia-Artikel zu dem Thema unterschwellig suggeriert? War Plünderung und Verherrung nicht die normale mittelalterliche Kriegsführung? Wie außergewöhnlich das Vernichtungswerk der Normannen im Norden Englands war, bezeugt die Erwähnung in zahlreichen Quellen, die Dr. Morris in seinem Artikel aufführt und die wir hier nicht einzeln wiederholen können. Am Eindrucksvollsten wird Wilhelm aber im Domesday entlavt. Das Domesday Book, ursprünglich King’s Roll oder Winchester Roll, stellte eine Art Grundbuch von England, das in Lateinisch die Ergebnisse landesweiter Ermittlungen im 11. Jahrhundert festhält. Auch andere Grafschaften hatten durch Plünderung und Verherrung nach 1066 gelitten, wurde dort dokumentiert, aber konnten sich erholen, Yorkshire verlor von 1066 bis 1086 aber 150 000 Menschen und der Norden erholte sich davon nur ganz, ganz langsam.

Militärisch war der Streich gelungen. Der dänische König, der gar nicht daran gedacht hatte, seine Flotte abzuziehen, kam im Folgejahr 1070 mit einer weiteren Flotte nach England, um Wilhelm zu vertreiben, fand aber keine geeignete Ausgangsbasis mehr, um zu landen und wagte für die englische Krone keine Entscheidungsschlacht, da er sich seinem Bruder, der die erste Flotte befehligte nicht sicher sein konnte, die englische Unterstützung kaum noch vorhanden war und er womöglich die kampferprobten Normannen fürchtete. Aber auch Wilhelm mußte tief in die Tasche greifen, um die Dänen zum Absegeln zu bewegen. Dieses Mal rettete er seine Macht nicht mit einer Schlacht oder einem selbst für die Zeitgenossen unglaublichen Kriegsverbrechen, sondern mit dem Reichtum Englands, wie Jörg Peltzer schreibt. War die Verheerung des Nordens das wert gewesen? Lassen wir Orderic, eigentlich ein „Fanboy“ Wilhelms, die Schlussworte dieses Artikels sprechen (zitiert nach Peltzer S. 263):

Er, Orderic, habe in der Vergangenheit viel Gelegenheit gehabt, Wilhelms Taten zu loben, aber dieses Vorgehen, das die Unschuldigen wie die Schuldigen gleichermaßen zum Tod durch langsames Verhungern verurteilte, könne er nicht gutheißen.

Euer Isidorus

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